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Beitrag vom 05.07.2025
Tove Jansson – Der Steinacker. Roman
Doris Hermanns
Von der Erfinderin der Mumins, Tove Jansson, ist 2024 der als letzte ins Deutsche übersetzte Roman "Der Steinbruch" erschienen, eine Geschichte eines pensionierten Journalisten, der nicht nur die Worte verliert, sondern auch seine Familie.
"Ja, ich bin still. (…) Und weißt du auch, warum ich still bin? Weil ich im Laufe dieses Jobs zu viele Wörter zerstört habe. Meine Worte sind alle abgenutzt und überanstrengt." Der Roman beginnt mit der Abschiedsfeier von Jonas, einem Journalisten. Millionen von Worten hat er während seiner Laufbahn für eine Zeitung geschrieben, war aber nie sicher, die richtigen gewählt zu haben. Ohnehin bemerkt er, dass es nur um den aktuellen Nachrichtenwert ging.
Worte spielen eine große Rolle in dem Roman. Für Jonas können sie kaum je korrekt genug sein: "Bewusstes Denken, das wäre: mit Worten analysieren und formulieren, präzisieren, unterscheiden und verwerfen, jeder Äußerung ihre exakte Berechtigung geben." Aber ihm ist durchaus bewusst, dass dies nicht für alle Menschen gilt, dass beispielsweise seine Tochter Maria möglicherweise in Bildern denkt. Er will seine beiden Töchter nicht mit "Interesse verwöhnen". Manchmal kommt es ihm vor, als habe er "mit diesen Töchtern nie ein einziges vernünftiges Wort gewechselt". Durch das Verstecken hinter "ungefährlichen Alltagsbemerkungen" konnte er das Familienleben auf Distanz halten, denn: "Wenn sie nur wüssten, wie groß mein Schreck davor war, Vater zu sein." Und daran hatte sich nichts geändert. Er macht dies an seinem Arbeitsleben fest, denn zu oft sei er losgeschickt worden, um "Leute zum enthemmten Reden zu bringen", dadurch habe er das Interesse verloren. Wenig erstaunlich hat er niemand, mit dem oder der er reden kann.
Ganz vorbei ist es mit dem Schreiben nach seiner Pensionierung nicht, denn Jonas wurde beauftragt, eine Biografie von Y zu schreiben, einem "Zeitungskönig", der hat "den gesamten Konzern aufgekauft, in dem dieses unsägliche Schundblatt erscheint, ein schlauer Kerl, ja, schlau wie ein Fuchs, (…) aber je mehr man in dieser Suppe herumrührt, umso übler stinkt sie". Wir haben gleich eine entsprechende deutschsprachige Zeitung vor Augen …
Zu dieser Zeit nun wird er von seinen beiden Töchtern zu einem Urlaub am Sund eingeladen, um "einen richtigen Sommer mit Ruhe, Wärme und guter Luft" zu verbringen. Sie gehen davon aus, dass er diesen brauche, um mit der Biografie in Gang zu kommen. Schnell wird deutlich, wie wenig Vater und Töchter voneinander wissen: Karin und Maria möchten an Familienritualen festhalten, ihnen ist an Kontakt gelegen und sie denken, dass die Saunakammer eingerichtet als Zimmer ein Freiraum ist, in dem sich der Vater ausruhen kann. Jonas hingegen muss sich eingestehen, rein gar nichts von ihnen zu wissen, er kennt nicht einmal ihre Berufe. Er fährt zwar zu ihnen, aber wahrt auch weiterhin den Abstand – scheinbar um zu schreiben.
Aber Y, den er inzwischen hasst, blockiert ihn "wie ein Steinacker". Dieser Vergleich drängt sich ihm auf, als er einen solchen am Urlaubsort besucht. "(…) dieser Mensch ließ die Sprache versumpfen und verarmen, er gewährte leichten Zutritt zu verlogenen Wunschträumen und feiger Sensationsgier, zu allem, was nichts mit Einsicht, Nachdenken, Erschütterung zu tun hat."
Die Fakten über Y hat er bereits gesammelt, aber ihm ist klar, dass etwas fehlt, das Private, Persönliche, die Lebendigkeit, kurzum: das Menschliche. Mehr und mehr merkt er, dass er diese Biografie nicht schreiben will. Als er darüber nachdenkt, wo er das Manuskript loswerden könnte, glaubt Jonas, dass "alles Misslungene unzerstörbar ist". Seine ständige Beschäftigung mit Y führt dazu, dass auch er beginnt, Vergangenes, "alles, was ungestört hätte bleiben sollen", zerstörerisch zu zerpflücken.
Auch wenn wir den Großteil der Geschichte aus der Perspektive von Jonas erfahren, so gibt es einige Szenen, in denen die Sicht der Frauen (seine ehemalige Ehefrau und ihre beiden gemeinsamen Töchter) auf Jonas und auf die Familie erzählt wird – die trotz allem Bemühen um Verständnis eine andere ist. Es gibt Ansätze von beiden Seiten, aufeinander zuzugehen. Und so kommt Jonas doch noch zu dem Schluss, dass es in der Art und dem Wesen seiner Tochter Maria trotz allem etwas gab, "das mit ihm selbst verwandt war, vielleicht eine gewisse Rastlosigkeit".
Im Vorwort lobt die Journalistin Anna-Lena Laurén den Ton Tove Janssons, die nie als Journalistin gearbeitet hat. Auch erfahren wir von ihr einige Hintergründe, die für ein deutsches Publikum aus dem Roman nicht gleich ersichtlich sind, wie der mögliche Grund für den Alkoholismus von Jonas. Und sie geht auch auf die Bedeutung von Worten in Zeiten der Verbreitung von Fake-News, Hass und Lügen im Internet-Zeitalter ein – und zeigt damit auf, wie viel dieser Roman, der im Original 1984 erschienen ist, auch heute noch zu sagen hat.
AVIVA-Tipp: Ein kurzer Roman, der aufzeigt, dass Geschehenes nicht einfach rückgängig gemacht werden kann, der aber auch die Wichtigkeit von Worten deutlich macht, die bei Tove Jansson wie üblich einfach und deutlich sind, stilistisch überzeugend. Und sich keinesfalls abgenutzt haben wie bei ihrer Hauptperson Jonas.
Wer Tove Jansson jetzt erst entdeckt: Mit diesem Buch liegen nun alle Romane und Erzählungen der Autorin in deutscher Übersetzung von Birgitta Kicherer vor.
Zur Autorin: Tove Jansson (1914-2001) wuchs in einem KünstlerInnenhaushalt in Helsinki auf. Mit 16 begann sie in Stockholm ihre künstlerische Ausbildung, studierte in Paris und Helsinki und arbeitete als Illustratorin und Karikaturistin. International wurde sie durch ihre Mumin-Bücher und -Comics bekannt, schrieb aber außerdem viele Romane und Kurzgeschichten für Erwachsene. In den 1950er-Jahren traf sie die Graphikerin Tuulikki Pietilä, mit der sie bis zu ihrem Lebensende zusammenblieb.
Zur Übersetzerin: Birgitta Kicherer wuchs zweisprachig in Schweden und Deutschland auf, studierte Graphik und arbeitete als Illustratorin, bevor sie sich der Übersetzung zuwandte. Kicherer übersetzt vorwiegend Kinder- und Jugendbücher aus dem Schwedischen und gilt als eine der produktivsten Übersetzerinnen Deutschlands. 1999 erhielt sie für ihr Gesamtwerk den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises.
Tove Jansson
Der Steinacker. Roman
Originaltitel: Stenåkern
Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer
ISBN 978-3-8251-5340-3
Urachhaus, erschienen 2024
95 Seiten, Hardcover mit Umschlag
Euro 20,00
Mehr zum Buch unter: www.urachhaus.de
Die Biographie von Tove Jansson auf Fembio www.fembio.org
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Weiterlesen:
Website zu Tove Jansson: www.tovejansson.com
Das Unternehmen Oy Moomin Characters Ltd, das Tove Jansson mit ihrem Bruder Lasse Ende der 1950er Jahre gründete, ist im Netz zu finden unter: www.moomin.com
www.reprodukt.com
Westin, Boel: Tove Jansson: Life, Art, Words. The Authorized Biography. Translation: Silvester Mazzarella. Sort of Books 2014